Belecke. Neun Senioren sitzen gemeinsam an der langen Tafel, während die Mitarbeiterinnen noch schnell die letzten Spuren des Frühstücks beseitigen. "Das erinnert viele an ein Ritual von früher", sagt Claudia Gockel, die Leiterin der Caritas- Tagespflege "Atempause", "damals saßen sie mit der großen Familie gemeinsam am Tisch." Möglichst viele Erinnerungen wollen Gockel und ihre Kolleginnen ins Bewusstsein der Senioren zurückbringen. Für die Männer in der Runde haben sie sich heute etwas ganz Besonderes überlegt: Es sollen Vogelhäuschen gebastelt werden. Doch zuvor wird der Tag mit einem weiteren Ritual eingeleitet. Claudia Gockel fragt nach Wochentag und Datum, die Gruppe unterhält sich ein wenig über den Tag und die Jahreszeit. Heute ist etwa der Namenstag von Alberich, liest eine Pflegerin vor. "So heißt doch keiner", erwidert eine Bewohnerin, andere lachen. Die Stimmung ist gelöst. "Solche Rituale sind wichtig für unsere Gäste", ist Claudia Gockel überzeugt, "es kommen viele zu uns, die etwa wegen einer Demenz zu Hause die Tagesstruktur nicht mehr bewältigen." Zwischen 8 und 9 Uhr trudeln die Senioren ein. Manche werden vom Caritas-Fahrdienst zu Hause abgeholt, andere von Verwandten gebracht. "Während die Senioren bei uns sind, haben die Angehörigen Zeit für sich - und die ist manchmal nötig - oder sie müssen sich auf der Arbeit zumindest keine Sorgen machen", erklärt Gockel.
Der Bau eines Vogelhäuschens ist in der „Atempause“ Männersache – die Gäste machen sich begeistert ans Werk.
Gruppenstunden wechseln täglich. Altenpfleger, Krankenschwestern und spezielle Kräfte zur Betreuung von Demenzkranken kümmern sich in der Tagespflege um das Wohlergehen ihrer Gäste - und bringen Aktivität in deren Tagesablauf.
Auf den offiziellen Tagesanfang folgen vormittags unterschiedliche Gruppenstunden. An diesem Tag verabschieden sich die Frauen aus der Runde zum Basteln in einen Nebenraum, denn das Bauen von Vogelhäuschen ist in der "Atempause" Männersache. Franz-Josef Gockel breitet die Baumaterialien auf dem Tisch aus: Bretter, Nägel und Schrauben, außerdem Pinsel und Farbe für den späteren Anstrich. Der passionierte Handwerker unterstützt manche Betreuungsangebote der Tagespflege ehrenamtlich. "Mir macht das Spaß", sagt er, bevor er mit einem der Gäste, einem früheren Werkzeugmachermeister, über die richtige Schraubenwahl philosophiert. Gockel und der versierte Herr versenken eine Schraube nach der anderen in den Brettern schnell nimmt das Vogelhäuschen Formen an - und ich, der doch eigentlich mithelfen sollte, stehe bloß daneben. So bleibt Zeit, sich mit den anderen Männern zu unterhalten.
Das Vogelhaus ist fertig – und findet seinen Platz im Garten der neuen Tagespflege.
Ich höre fast unglaubliche Geschichten von frivolen Liebes-Angeboten, blicke aber auch in die traurigen Augen eines Mannes, der noch immer viel an seine vor zwei Jahren gestorbene Ehefrau denkt, mit der er 62 Jahre lang verheiratet war. "Viele unserer Gäste haben keine sozialen Kontakte mehr", sagt Claudia Gockel - umso wichtiger sind die Gespräche mit Gleichaltrigen.
Hinzu kommt die Hilfsbereitschaft untereinander. Ist sich der eine nicht mehr sicher, wo noch gleich die Toiletten waren, führt ihn ein anderer dorthin. Nebenbei haben Franz-Josef Gockel und der Werkzeugmachermeister das Vogelhäuschen zusammen gezimmert - bis ihnen ein Fehler im Bauplan auffällt. Die angegeben Maße sind falsch; das Dach steht kaum über, so dass es in das Häuschen herein regnen würde. Jetzt muss ich doch noch ran: Wir sägen die Latten, auf die das Dach geschraubt wurde, kürzer, um die Arbeit noch zu retten. Die neue Version findet etwas mehr Gefallen, die Männer wollen Richtfest feiern. "Schnaps auf den Tisch", rufen sie - doch der fehlt in der Ausstattung der Tagespflege.
Und jetzt greifen auch die Herren, die bislang nur zuschauten, mit ein. Sie nehmen die Pinsel zur Hand und bemalen das frisch gebaute Vogelhäuschen: Den Pfahl, der nachher in den Boden gerammt wird, überziehen sie mit Klarlack, das Dach wird grell-rot, der Boden braun. Am Ende sind alle zufrieden. "Das ist uns wichtig", sagt Einrichtungsleiterin Claudia Gockel, "denn mit unserem Programm orientieren wir uns immer an den Wünschen der Gäste."
Text und Fotos: Westfalenpost Warstein 1. Dezember 2014